Auf dieser Seite finden
Sie unsere aktuellsten Empfehlungen auf
einem Blick.

Diese werden nach geraumer Zeit in ihr jeweiliges Genre einsortiert.

Zum Stöbern hier klicken oder nach unten scrollen                          

KRIMIS

 

 

SACHBUCH

 

 

BILDERBUCH

 

 

RARITÄTEN

 

 

Erst kürzlich entdeckt

 

Iida Turpeinen

Das Wesen des Lebens


 

Roman, Fischer Verlag 2024,
316 Seiten, Hardcover
, 24--Euro

 

Buch kaufen


 

Drei Jahrhunderte eines Meeresgiganten
und die Lebensgeschichten der damit verknüpften Menschen

Iida Turpeinen ist eine junge, finnische Schriftstellerin, die zurzeit ihre Dissertation über das Verhältnis von Naturwissenschaft und Literatur schreibt. Außerdem lässt sie sich gern von den Kuriositäten und verblüffenden Details, die in der Wissenschaft zu entdecken sind, in ihren Bann ziehen. Beides sind ein wichtiger Teil ihres Romandebüts.

Im Naturkundemuseum Helsinki steht eines der wenigen vollständigen Skelette der Stellerschen Seekuh – ein Tier, das mit seinen acht Metern Länge eine, für eine Seekuh, unvorstellbare Größe erreichen konnte. 1741 vom Naturforscher und Theologen Georg William Steller entdeckt, war sie knapp 30 Jahre später vollständig ausgerottet.

Turpeinens Roman gliedert sich in vier Teile und nimmt die Lesenden mit auf die Reise durch die Geschichte von der Entdeckung der Seekuh bis zum festen, neuen Zuhause des Skeletts im Naturkundemuseum Helsinki. Der Roman umfasst 300 Jahre; es geht nach Russland, Finnland, Alaska und auf die Aleuten. Dabei werden historische Ereignisse umrissen. Der Text setzt sich nicht nur mit Naturkunde und Wissenschaft aufeinander, sondern auch mit Kolonialismus, Rassismus, religiösen Aberglauben und patriarchale Strukturen. Es ist eine Darstellung des weißen Mannes, der den Glauben vertritt, Gottes Schöpfung sei allein für den Nutzen des Menschen gemacht und stets unveränderlich. Es zeigt dessen rücksichtslosen Umgang mit seiner Umwelt.
Die Autorin tut dies jedoch, ohne direkt den moralischen Zeigefinger zu schwingen, sondern, indem sie epochenweise das Leben von involvierten Frauen, Männern und deren Lebensumstände beschreibt.

Wir sind dabei, wenn die Behring-Expedition auf einer unbekannten Insel endet und Steller seiner Sehkuh das erste Mal begegnet. Wir reisen mit, wenn 1850 Johann Hampus Furujelm mit seiner ihm standesgemäß angetrauten Ehefrau das Schiff betritt, um seinen Posten als neuer Gouverneur in Alaska anzutreten und „Ordnung“ in eine Kolonie zu bringen, deren indigene Bevölkerung sich aufzulehnen beginnt, angesichts des schwindenden Otter- und Robbenbestands. Wir lernen Furujelms Schwester kennen, die so gar nicht ziemlich geraten ist, für eine Frau, die einmal heiraten soll; dafür anderweitig eine große Leidenschaft entwickelt.
10 Jahre später sucht in Helsinki ein renommierter Wissenschaftler eine helfende Hand für seine Zeichnungen – und er wird fündig; allerdings auf nahezu skandalöse Weise. Und schließlich werden auch ausgeblasenen Vogeleier eine direkte Verbindung mit dem Skelett der Stellerschen Seekuh entwickeln.

Immer wieder lassen einen verblüffende, bizarre „Funfakts“ beim Lesen aufhorchen und staunen. Turpeinen gelingt es, diese geschickt und zahlreich in ihren Roman einzuarbeiten. Ebenso wie kurze, wissenschaftliche Texte, Auflistungen, Zitate, Tagebucheinträge und Koordinaten. Der Roman, der in einem nüchternen Ton geschrieben ist, bekommt dadurch etwas Collagenartiges. Auch der berichtende Erzählstil scheint hier ganz bewusst ausgewählt zu sein. Die ergreifenden Biografien der einzelnen Protagonist*innen lassen den Roman dennoch nicht emotionslos und langweilig daher kommen. Das Gegenteil ist der Fall!

Empfohlen von Saskia Jürgens

 

Leonora Carrington

Die Windsbraut – Bizarre Geschichten


 

Kurzgeschichten, Nautilus Verlag 2024,
256 Seiten, broschiert, 18,--Euro

 

Buch kaufen


 

Wenn dich eine Hyäne auf dem Debütantinnen-Ball vertritt

In dieser Kurzgeschichtensammlung, die vom Nautilus Verlag zusammengetragen wurde, sammeln sich keine neuen Erzählungen. Es handelt sich um einen Erzählband mit Texten der Surrealistin Leonora Carrington, die zwischen 1937 und 1948 entstanden sind. An der Seite von Max Ernst entfaltete Carrington sowohl malerisch als auch literarisch ihr kreatives Können, dass von viel Fantasie, Neugierde auf das Mystische und scharfer, treffender Gesellschaftskritik zeugt. Diese Kurzgeschichten tragen etwas Düsteres, Schauerliches mit sich, sind bizarr und mischen sich mit mexikanischen Mythen, Kabala und nordischen Märchen.


Auffällig und bemerkenswert dabei ist die Kritik am Bürgerlichen und die feministische Botschaft, die in allen Texten mitschwingen. Die Protagonistinnen, die diese Geschichten anführen, sind wild, verstrubbelt und entsprechen in keinster Weise gängigen Schönheitsidealen dieser Zeit. Und dennoch sind sie auf ihre Art schön. Sie sind frei, oder gerade dabei sich zu befreien, und sind selbstbewusst. Sie haben der Zivilisation mit all ihren Regeln den Rücken gekehrt und leben als Einsiedlerinnen in der Natur, wo sie mit Tieren befreundet sind, Stiere heiraten und ihre Kinder verspeisen. Und ganz skandalös: Dann getrauen sich diese Damen auch noch mit dem Fahrrad herumzufahren!
Diese Kurzgeschichten sind, trotz ihrer Düsternis, erfrischend. Dem Spießertum und dem Patriarchat hält sie mit Humor und Einfallsreichtum einen Zerrspiegel vor.


Da Carrington vor allem für ihre Gemälde bekannt wurde, finden sich diese zwischen den Textpassagen in diesem Büchlein. Wer die Geschichten liest, wird die surrealen Gemälde bei weitem besser verstehen. Der Band endet mit einem ausführlichen Nachwort, welches Carringtons Werke mit ihren Interessen, Erfahrungen und Leidenschaften verknüpft; ihre Kindheit in der britischen Großbourgeoisie skizziert, ebenso wie ihre Bemühungen sich daraus zu befreien. Es geht auf die Beziehung zu Max Ernst und den Surrealisten ein und schildert das tragische Ende dieser Liebe, die vom deutschen Nationalsozialismus und dessen Folgen gebeutelt war.
Eine lesenswerte und erleuchtende Kurzgeschichtensammlung.

Empfohlen von Saskia Jürgens

 

Olga Tokarczuk

E.E.


 

Roman, Kampa Verlag 2024,
300 Seiten, 25,--Euro

 

Buch kaufen


 

Psychoanalyse und Gläserrücken

Bresslau 1908: Frau Eltzner führt an der Seite ihres Ehemannes, der eine Textilfabrik leitet, ein Leben als Hausfrau, Mutter und Gastgeberin einer gutbürgerlichen und situierten Familie. Letzteres liebt sie; doch der Alltag als Mutter von acht Kindern beschert ihr nicht sehr viel Spannendes, und so sehnt sie sich nach Aufmerksamkeit, der Liebe ihres Mannes und, vielleicht sogar ein bisschen, nach Glanz in ihrem Leben.
Regelmäßig finden im Hause Eltzner Séances statt und so ist es eine willkommene Angelegenheit, dass die 15-jährige Tochter Erna eines Tages beim Mittagessen in Ohnmacht fällt. Nachdem sie vom Freund und Familienarzt Dr. Löwe untersucht wurde, und sie ihrer Mutter unter vier Augen berichtet, einen Geist gesehen zu haben, kann Frau Eltzner bei den regelmäßigen Sitzungen nun mit einem familieneigenen Medium aufwarten.
Der Kern der Gruppe, die sich dem gespenstischen Vergnügen hingibt, setzt sich aus dem immer gleichen Personal zusammen. Jeder der Gäste bringt seine ganz persönlichen Belange und Erwartungen mit zu den Treffen. Auch Dr. Löwe ist meist vor Ort – ihm, und somit dem Grüppchen, hat sich ein Student angeschlossen, welcher sich mehr und mehr der Psychoanalyse verschreibt. Er nennt seine neueste Untersuchung den „Fall E.E.“ - Erna Eltzner und ist damit bei weitem nicht der einzige, der Erna zum Objekt seiner Bedürfnisse macht.

Wieder einmal nimmt Olga Tukarczuk unsere Kultur und besonders prägende historische Ereignisse in ihrem Roman unter die Lupe. In diesem Fall eine wogende Zeit im Umbruch, in welcher auch die Psyche in den Fokus der Wissenschaften rückt; die Psychoanalyse ihre Geburtsstunde hat, ebenso wie die Hypnose und allerlei wilder Theorien, die zwischen Wissenschaft und Esoterik oszillieren.
Jedes Kapitel ist aus dem Blickwinkel eines anderen Familienmitglieds oder Teilnehmenden der Séances geschrieben, was den Roman abwechslungsreich gestaltet und Einblicke in die Denkweisen und Motive der Protagonist*innen bietet. Ein interessanter Roman, der den unglaublichen Umbruch, den Forschung und Wissen dieser Zeit mit sich bringen, und welche im Gefecht mit Religion und Aberglauben stehen, greifbar macht.

Die polnische Autorin Olga Tukarczuk ist selbst Psychologin und hat 2018 für ihr literarisches Werk den Literatur Nobelpreis erhalten.

Empfohlen von Saskia Jürgens

 

Jean-Michel Guenassia

Der Club der unverbesserlichen Optimisten


 

Roman, Insel Verlag 2018, Taschenbuch,
685 Seiten, 10,-Euro

 

Buch kaufen


 

Eine Jugend zwischen den
politischen Ereignissen des 20. Jahrhunderts

Michel ist gerade 12 Jahre alt geworden, als er damit beginnt im Paris der 1960er Jahre seinem Bruder nach der Schule in ein Bistro zu folgen, um sich dort mit seinen Freunden zum Tischfußball zu treffen. Es ist eine ereignisreiche und aufwühlende Zeit: Seit dem 2. Weltkrieg sind noch nicht einmal 20 Jahre vergangen und die Abneigung der Franzosen gegenüber den Deutschen ist sehr präsent. Der Eiserne Vorhang prägte das politische Geschehen, ebenso wie das nahende Ende der französischen Kolonialherrschaft über Algerien. Da mit der Verbindung von Michels Eltern ein italienischer Arbeiter auf die Familie einer Unternehmertochter prallte, braut sich auch dort ein Drama zusammen.

Eines Tages gelingt Michel ein Blick ins Nebenzimmer des Bistros, wo er das Treiben eines geheimen Schachclubs erspäht, mit dessen Teilnehmern er sich als „junger Eindringling“ anfreundet. Nach und nach lernt er die Lebensgeschichten der anwesenden sowjetischen Schachspieler kennen, deren Hintergründe und politische Einstellungen nicht unterschiedlicher sein könnten. Verbunden sind sie jedoch alle mit ihrem Leben im französischen Exil als Taxifahrer und einer zunächst nicht greifbaren Loyalität für einander. Auch Jean Paul Sartre wohnt hin und wieder diesen Treffen bei. Und so schnuppert Michel dort die neue Luft der Intellektuellen, Kunst und Literatur.
Doch auf erschütternde Weise wird Michel andauernd der Boden unter den Füßen weggerissen. Sei es die politische Situation, die streitende Familie, brüchige Freundschaften oder die Folgen des Algerienkriegs. Da erscheint das Auftauchen von Sascha wie ein Rettungsanker, der sich dem jungen Michel annimmt, ihn nicht nur bei seinen ersten Fotografieversuchen unterstützt und bestärkt, sondern auch anderweitig eine Mentorenrolle einnimmt. Doch warum macht im Schachclub keiner einen Hehl aus dem Hass, den dort alle auf Sascha zu haben scheinen?

Das Roman umfasst circa 5 Jahre von Michels Jugend, die zwischen geopolitischen Ereignissen und dem Übergreifen ins persönliche Leben erschüttert werden. Gleichzeitig zeigt er die große Bedeutung von Freundschaft und vom Verzeihen-können. Ein Text der ebenso eine Ode ist, an die Schönheit der Kunst - gleich ob Architektur, Fotografie oder Film. Und so ergreifend, dass man das Buch nicht aus den Händen legen möchte, bis man mit Michel alles durchgestanden und die Leben und Verflechtungen aller anwesenden Protagonisten kennt. Ein fesselndes Epochenportrait der französischen Nachkriegsgeneration.

Empfohlen von Saskia Jürgens

 

Simone Scharbert

Rosa in Grau - eine Heimsuchung


Roman, Edition Azur bei Voland & Quist,
202
2, 184 Seiten, 22,--Euro

 

Buch kaufen


 

Zwischen Entbehrungen, nicht greifbaren Eindrücken und Zuwendung

An der Seite der jungen Ich-Erzählerin ist stets ihre kleine Tochter Rosa mit den zwei geflochtenen Zöpfen. Wenn auch alles andere nicht in Ordnung ist; Rosa ist gewaschen und die Zöpfe sind akkurat. Mit ihr spricht sie, sie beschützt sie, sie ist immer an ihrer Seite; Rosa ist ihre Vertraute. Die Welt der Protagonistin ist alles andere als normal und gleichförmig. Denn schon bald befindet sie sich in einer psychiatrischen Einrichtung des Nachkriegsdeutschlands. Ihre Diagnose: Schizophrenie.
Die Klinik ist ein Ort voller Entbehrungen. Es gibt Schlafsäle, in welchen sich Bett an Betten reihen – keine Rückzugsmöglichkeiten führen dazu, dass die Patientinnen die Ausraster der anderen, genauso wie die Gegenmaßnahmen, miterleben. Und jede dieser schwankt, zwischen dem Verbergen der eigenen Geheimnisse, dem Sich-Öffnen und Sich-Anlehnen. Oft gibt es kein warmes Wasser; kahle Wände und überfordertes Personal sind an der Tagesordnung. Ebenso wie unerfahrene Experimente.

Wer nun einen grausamen Tatsachenbericht über die schrecklichen Zustände erwartet, wird eines Besseren – eines Poetischeren - belehrt. Dies ist eine zarte Erzählung über das Verloren-sein, den „inneren, freien Fall“ und Zerbrechlichkeit, aber auch über Zuneigung, Freundschaft und Liebe, über Kunst und Zärtlichkeit. Über das Aufgenommen-werden und über die Zuspitzung des Subjektiven. Erzählt wird das Buch nämlich ausschließlich aus der Wahrnehmung dieser Patientin heraus, deren Welt sich auffächert in einzelne, mal schillernde, mal trübe Fragmente voller verzerrter Bilder und Erinnerungen. Voller Schönheit, aber auch Ängste und Dramen. Man kann nur erahnen, welche dieser Eindrücke echt sind, und welche sich in ihrem Kopf abspielen, wenn sich beispielsweise Papierschnipsel zu einem Kunstwerk zusammenfügen oder ihr Rosa zu entgleiten scheint. Für die Protagonistin sind sie alle real. Und oft ist die Realität so nah, nur ein wenig in eine andere Spur gerückt. Das Buch liest sich, wie in einem kaleidoskopartigen Traum und berührt einen dabei, wie es selten ein Text tut.

Die Autorin Simone Scharbert ist 1974 in Aichach geboren und hat Politikwissenschaft, Philosoph und Literatur in München, Augsburg und Wien studiert.

Empfohlen von Saskia Jürgens

 

Leonard Woolf

Mein Leben mit Virginia


Sachbuch, Schöffling & Co. Verlag 2023,
Hardcover, 384 Seiten, 28,-Euro

 

Buch kaufen


 

Unentwegt an Virginias Seite
Als sich Virginia Woolf 1941 das Leben nimmt, schreibt sie in ihrem Abschiedsbrief an ihren Ehemann Leonard folgende Worte: „Wenn mich jemand hätte retten können, wärst du es gewesen“. Dieser eine Satz verdeutlicht, wie innig die Bindung zwischen diesen beiden Menschen sein musste.


Leonard Woolf schildert in diesem Buch sein Leben mit Virginia, das geprägt war von beider Liebe zur Literatur, von der Gründung des Verlags Hogard Press, von den Treffen der Bloomsbury-Freunde, aber vor allem von Virginias psychischer Erkrankung, die alles im Würgegriff hatte.
Beim Lesen lernen wir Leonard kennen als einen feinfühligen, empathischen Menschen mit bemerkenswerter Beobachtungsgabe und Reflexionsvermögen; als jemanden mit Sinn für ein Miteinander, der seinen Mitmenschen Respekt entgegen bringt. Für ihn muss Virginia eine Art schreibende Heldin gewesen sein, deren Genie die eine Seite einer Medaille war, deren andere Seite der Wahn darstellte. Dieser Eindruck entsteht, beim Lesen dieser ganz persönlichen Biografie zweier gemeinsamer Leben.

Leonard Woolf schildert auf respektvolle Weise Virginias schreckliche psychotischen Episoden und seine Bemühungen, der Sache wirklich auf den Grund zu gehen. Er lehnt diffuse Diagnosen wie Hysterie und Neurasthenie ab, und ist einer der ersten, die sich mit der bipolaren Schizophrenie auseinandersetzt. Gleichzeitig erfahren die Lesenden interessante Details über das Leben der jüdischen, Londoner Oberschicht, sowie Leonard Woolfs Zeit in der englischen Kolonie Cylon, die er vorzeitig abbrach und ihn zum Gegner des Kolonialismus prägte. Auch spiegelt sich eine feministische Haltung und Achtung gegenüber Frauen in diesem Text wieder. Ein weiterer gewichtiger Anteil des Buches sind beider Erfahrungen mit der Leitung und Organisation eines eigenen Verlages.

Eine berührende Biografie, die erahnen lässt, dass - ohne Leonard an ihrer Seite - Virginia Woolfs umfangreiches literarisches Werk kaum möglich gewesen wäre.

Empfohlen von Saskia Jürgens

 

Roman Köster

Müll


Sachbuch, C.H. Beck Verlag 2023,
Hardcover, 422 Seiten, 29,-Euro

 

Buch kaufen


 

Eine Geschichte der Menschheit, erzählt anhand von deren Müll
Nicht nur die Menge des Mülls änderte sich im Laufe der Jahrhunderte, sondern auch deren Zusammensetzung. Was einst eine ziemlich nasse, schlammige Angelegenheit war, deren Tücken vor allem in Krankheitserregern steckte, teilt sich heute in vergleichsweise kleine Anteile an organischen Abfällen mit tierischer und pflanzlicher Herkunft auf und besteht dafür zunehmend aus „trockenen“ anorganischen Stoffen, deren Gefahr in der Giftigkeit der Bestandteile liegt.Ebenso hat sich der Umgang mit Müll in unterschiedlichen Aspekten verändert. Schon immer gab es Komponenten des Abfalls, die lediglich aus dem Weg, zum Beispiel aus dem Sichtfeld, geschafft wurden; sowie Güter, die man recycelte, in dem sie erneut verwendet, umgenutzt oder in ihre Bestandteile zerlegt wurden, um daraus Neues herzustellen. Müll war und ist häufig Last und Nutzen zugleich. Oft wurde die Schädlichkeit mancher Stoffe erst nach fortgeschrittener Zeit erkannt.
In seinem Buch über den Müll legt Köster einiges Erstaunliches frei und zeichnet damit eine spannende, lehrreiche und vielleicht auch zukunftsweisende Geschichte über unser Verhältnis zum Abfall und dessen Verwertung. Neben vielen historischen und wissenschaftlichen Informationen, die in einem umfangreichen Quellenverzeichnis transparent gemacht werden, findet man zahlreiche faszinierende Anekdoten – beispielsweise über Schweine, Friedhofsmauern und mafiöse Strukturen des Müllsammelns – welche die Neugierde beim Lesen garantiert nicht abflachen lassen.
Da unser Planet begrenzt ist und die Stoffe, aus welchen die Produkte, die uns umgeben, bestehen, immer komplexer werden – und somit auch der Müll, den wir produzieren – ist es für unsere Zivilisation unabdingbar, uns mit unserem Müll auseinanderzusetzen, um auch weiterhin gesund und in einem intakten Lebensraum zu leben. Ein fortwährender Prozess, der auch in Zukunft (unangenehme) Überraschungen bereit halten wird. In Hinblick auf Ressourcenknappheit spielen natürlich Möglichkeiten der Vermeidung und Wiederverwertung ebenfalls eine nicht zu unterschätzende Rolle.
Dieses Buch liefert auf unterhaltsame und sachliche Weise einen guten Einblick darin, welche Aspekte eine vielseitige Auseinandersetzung beinhalten sollte und schafft ein Verständnis über die weitreichende Komplexität des Themas.
Roman Köster habilitierte sich über die deutsche Abfallwirtschaft nach dem Zweiten Weltkrieg und ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der Historischen Kommission bei der Bayrischen Akademie der Wissenschaften. Sein Buch Müll war für den Deutschen Sachbuchpreis 2024 nominiert.

Empfohlen von Saskia Jürgens

 

Karin Schneider

Tauben


Essyistisches Sachbuch aus der Naturkunden-Reihe,
Matthes & Seitz Verlag 2021, gebunden, 160 Seiten, 20,-Euro

 

Buch kaufen

 

 

Unsere verteufelten Nachbarn – eine Richtigstellung

In jeder Stadt sind sie anzutreffen. In der Wahrnehmung vieler sogar zu Hauf, in untragbaren Mengen. Doch eine Zählaktion, die 2017 in Frankfurt durchgeführt wurde, zeigt die große Diskrepanz zwischen den subjektiven Empfindungen der Bevölkerung und den tatsächlichen Zahlen: Geschätzt wurde die Anzahl der Tauben in Frankfurt auf 40.000 Individuen – gezählt wurden jedoch nur 4500. Woher kommt dieser Hass und dieses Gefühl einer Bedrohung ausgesetzt zu sein, wenn es um unser Zusammenleben mit den Stadttauben geht? Karin Schneider geht dieser Frage in ihrem kleinen Portrait, erschienen in der Naturkunden-Reihe des Matthes & Seitz Verlags, auf den Grund und beschreibt zahlreiche interessante Aspekte, die unser Zusammenleben mit diesem freundlichen, sozialen und intelligenten Tier skizzieren. Eine Freundlichkeit, die den Tauben beim Zusammentreffen mit Menschen schon oft zum Verhängnis wurde. Denn noch vor dem Hund zählte die Taube zum ersten Haustier des Menschen und ist es zum Teil auch heute noch. Als Dekorationsobjekt, Nahrungsmittel, für Kriegseinsätze, der Überbringung von Nachrichten oder schlicht zum Austragen von Wettkämpfen, die das menschliche Ego aufpolieren sollen, wurden und werden heute noch Tauben ausgebeutet. Schneider beschreibt in ihrem Buch zu welchen perfiden und beschämenden Mitteln dabei die Besitzer der Sporttauben greifen, um die Leistungen ihrer Tiere zu erhöhen: Psychischer Druck, der auf dem sozialen und monogamen Bedürfnissen und Verhaltensweisen der Tauben fußt.
Unsere Stadttauben sind nicht selten verwilderte Haustiere oder deren Abkömmlinge, die da als „Ratten der Lüfte“ verunglimpft werden. Dabei sind wissenschaftlich jegliche Ammenmärchen über die Gefahr von Krankheits- und Parasitenübertragung, sowie die Schädlichkeit des Taubenkots widerlegt. Mythen, die unter anderem mit einer Desinformationskampagne im Manhattan der 1960er Jahre in Verbindung gebracht werden können – Dabei ging es um eine „Säuberunsaktion“ von Parkanlagen, die - getragen von der Beseitigung von Stadttauben - auch die Diskriminierung von Homosexuellen und Obdachlosen „kollateral“ beinhaltete.
Zudem ermöglicht Schneider eine Vorstellung über die erstaunlichen sozialen und kognitiven Fähigkeiten der Tauben, die sich beispielsweise im Spiegel erkennen können, was wissenschaftlich als Beleg einer vorhandenen Vorstellung vom eigenen Selbst gilt. Nachkommen werden liebevoll von beiden Elternteilen, die in der Regel ein Leben lang zusammenbleiben, versorgt. Sie sind unter anderem in der Lage, auf Röntgenbilder Brustkrebs ausfindig zu machen, wo das menschliche Auge versagt, und sogar im Stande Ortographie zu erlernen. Schon allein dies sollte neugierig machen, auf die weiteren erstaunlichen Fakten über Tauben, die es in diesem Büchlein zu entdecken gibt. Schneider liefert mit ihren Verweisen auf die unterschiedlichen erwähnten Studien nicht nur Belege für ihre Ausführungen, sondern auch zahlreiche Möglichkeiten weiterzulesen und tiefer in ein faszinierendes Thema einzutauchen.

Empfohlen von Saskia Jürgens

 

Bonnie Leben

Ein Bonnie kommt niemals allein


Psychologisches Sachbuch,
Heyne Verlag 2024, Taschenbuch, 256 Seiten, 16,-Euro

 

Buch kaufen

 

 

Wenn man VIELE ist

Bonnie Leben haben eine dissoziative Identitätsstörung, kurz DIS, was früher als multiple Persönlichkeit bekannt war. Leider stammen die meisten Vorstellungen über diese psychische Erkrankung, die in der Bevölkerung vorherrschen, aus fantasiereichen Thrillern und Horrorfilmen. Ein Bild, das mit der Realität kaum etwas zu tun hat. Menschen ohne DIS können sich schlichtweg nicht vorstellen, was es bedeutet seinen Körper, seine Zeit und sein Leben mit vielen teilen zu müssen. Das führt nicht nur zu Hindernissen und Diskriminierung im Alltag, sondern auch zu noch schwereren Bedingungen in Diagnose, Therapie und dem Erhalten von Hilfsmaßnahmen. In deren Buch lassen Bonnie Leben (ein Künstler*innen Name, der alle Personen mit einschließt und daher im Plural steht) mehrere der Personen mit ihren ganz unterschiedlichen Perspektiven, Erfahrungen und Eigenschaften zu Wort kommen. Durch die Lektüre wird ein extrem abstraktes Thema auf berührende Weise greifbarer sowie persönlicher, und man kann sich ein Bild davon machen, was zum Beispiel der Versuch einer Diagnose bedeutet, wenn in einem Körper Personen stecken, die nach Hilfe schreien, während andere, täternahe Personen versuchen, diese zum Schweigen zu bringen und wieder andere nicht an ein Trauma glauben. Denn eine DIS entsteht nur dann, wenn jemand im frühen Kleinstkindesalter – noch bevor sich eine Persönlichkeit entwickeln konnte – über längeren Zeitraum extremem Trauma ausgesetzt wurde, sodass einzelen Persönlichkeitsfragmente nicht zusammen wachsen, sondern sich zu einzelnen, Persönlichkeiten entwickeln, die oft nicht vollständig ausgereift sind. So leben in einem einzigen Körper geistige Kinder; Erwachsene; Menschen die „älter“ als der Körper sind. Solche, die entstanden sind, um das Trauma zu er-/überleben; solche die den Täter nahe stehen und/oder maladaptiv handeln und Personen, die im Alltag funktionieren müssen und daher keine Erinnerungen an das Trauma haben. Alle haben sie mehr oder weniger Zugriff auf einen einzigen Körper – oft mit unterschiedlichen Zielen. Die Herausforderung und wichtiges Ziel einer Therapie sind demnach eine Kooperation und Kommunikation zwischen den Personen zu erreichen – neben der Aufarbeitung des Erlebten.
Verständnis und Offenheit von Seiten der Mitmenschen erleichtern Menschen wie Bonnie das Leben ungemein – das ist nur möglich, wenn darüber gesprochen wird und Informationen das Schweigen und falsche Vorstellungen vertreiben. Auch Tätern wird mit Aufklärung das Handeln erschwert.
Mit diesem Buch und ihrer Offenheit hinsichtlich deren Erleben, leisten Bonnie Leben einen großen Beitrag zur Aufklärung über ein Thema, das kaum ernsthafte Diskussion in der Öffentlichkeit erlebt. Und das obwohl schätzungsweise 1 – 1,5 % der Bevölkerung davon betroffen sind.

Empfohlen von Saskia Jürgens

 

Sarah Raich

Hell und Laut


Biografischer Roman ,
S. Marix Verlag 2023, Hardcover, 432 Seiten, 24,-Euro

 

Buch kaufen

 

 

Ein Lebenskampf um die Freiheit eine Schriftstellerin zu sein

Denken wir zurück an unsere Schulzeit; genau genommen an den Deutschunterricht mit seinen durchgenommenen Pflichtlektüren, wird es den meisten von uns ähnlich gehen: Nur selten, häufig auch gar nicht, begegneten uns dort weibliche Autorinnen. Wurde nachgehagt, lautete die Erklärung meist, dass es in der Literaturgeschichte bis zum Ende des 18. Jahrhunderts kaum nennens- und lesenswerte Autorinnen gab. Aber auch unter der später datierten Autorinnenschaft finden selten welche Einzug in den schulischen Deutschunterricht. Und so bekommen die Mädchen nicht nur keine weiblichen, schreibenden Vorbilder vorgesetzt, sondern müssen sich im Literaturunterricht andauernd mit dem männlichen, patriarchalen Blick auf Frauen außeinandersetzen – meist sogar, ohne darüber aufgeklärt zu werden. So erlesen sie sich ein Frauenbild, in welchem Frauen gerettet werden, Frauen erkämpf werden, wegen Frauen Kriege angezettelt werden und Reiche untergehen und Männer in den Ruin getrieben werden. Sie tauchen dabei am Rande der Geschichte auf, um die Geschichten der Männer voran zu treiben – handeln selten und werden dafür verführt, geschwängert oder ermordet. Danach gilt es zu erörtern, welchen Schuldanteil die jeweilige an ihrem eigenen Schicksal hatte. In diesen Texten wird zumindest unterschwellig vermittelt, wie sich Frau zu benehmen hat (keusch, moralisch, zurückhaltend, bescheiden, dekorativ, folgsam) und was passiert, wenn sie dies nicht erfüllt.
Dabei ist es schlicht eine Lüge, wenn behauptet wird, dass es keine Autorinnen und deren Werke gegeben oder in die Gegenwart geschafft haben. Hrotsvit von Gandersheim ist eine von über 300 bekannten Autorinnen, die zwischen dem 1. vorchristlichen und dem 18. Jahrhundert geschrieben hatte – auf Latein.
Sarah Raich trägt in ihrem Roman die Lebensereignisse von Hrotsvit von Gandersheim zusammen – das recht wenig Bekannte ist gut recherchiert und zu einer authentisch-glaubhaften Lebensgeschichte zusammengesetzt. Beim Lesen befindet man sich sofort in Mitten einer mittelalterlichen Szenerie, denn Hrotsvit lebte im 9. Jahrhundert. Als Tochter einer Adelsfamilie soll sie mit ihrer Heirat ihrer Familie politisch gewinnbringende Verbindungen bescheren und dafür als folgsame Ehefrau ausgebildet werden, die in der Lage ist einen Adelshof zu führen und sich gleichzeitig - ihren Gatten schmückend - im Hintergrund halten. Für ihre Ausbildung wird sie ins Kloster geschickt. Die Lektüre veranschaulicht eindringlich und mitreißend, was es bedeutet haben muss, als Frau im Mittelalter gelebt zu haben. Das Kloster, das wir heutzutage als reinen Ort der Frömmigkeit erleben, stellte zu dieser Zeit nicht selten ein Schutzraum dar, in welchem Frauen sich weiterbilden konnten, von Männern weitgehend unbehelligt lebten und einem frühzeitigen Tod durch Schwangerschaft (jede 5. Schwangerschaft endete tödlich) entgingen – gleichzeitig blieb Raum für die Entwicklung von Fertigkeiten und die Entdeckung der eigenen Sexualität.
Hin und her gerissen zwischen der Passion zu Schreiben, dem Klosterleben, politischen Intrigen und der Gefahr der Willkür ihrer Familie und Heiratsanwertern ausgesetzt zu sein, verläuft Hrotvits Lebensweg kurvig und holprig. Raich verbindet in ihrem Roman Hrotsvits Leben mit politischen Ereignissen, die sich zur selben Zeit abspielten und ihr Leben maßgeblich beeinflussten. Zu dem schafft sie eine einleuchtende Vorstellung davon, wie sich patriarchale Strukturen entwickeln und bis in die heutige Zeit hinein festigen und weitertragen konnten.
Ein fesselnder Roman, der bildhafte, realistische Einblicke in die Strukturen eines mittelalterlichen Europas ermöglicht, sich kaum aus der Hand legen lässt und das ein oder andere Lachen hervorruft, aber auch Tränen vergießen lässt.

Empfohlen von Saskia Jürgens