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Dirk Kurbjuweit
Die Freiheit der Emma Herwegh
Roman, Hanser Verlag 2017, 333 Seiten, 23,--Euro
Zunächst eine Warnung: dies ist kein Heldenepos über den mutigen 1848er-Revolutionsführer Georg Herwegh und die an seiner Seite stehende tapfere Frau Emma, die mit ihrem Freiheitswillen allen
Konventionen der Zeit trotzt. Nein, dieser wunderbare historische Roman zeichnet seine Figuren sehr differenziert mit ihren Licht- und Schattenseiten. Gerade der im 19.Jahrhundert überaus populäre ,
aber offenbar auch grenzenlos egozentrische Freiheitsdichter Georg Herwegh („Alle Räder stehen still, wenn dein starker Arm es will“) muss hier viel von seinem heroischen Pathos lassen. Zu dreist
waren seine unaufhörlichen Liebeseskapaden auf Kosten seiner Frau Emma, zu dilettantisch ausgeführt war sein Versuch, mit einer „Deutschen Demokratischen Legion“ im Jahre 1848 die Revolution vom
französischen Exil aus im Großherzogtum Baden zu entfachen.
All dies wird in diesem Buch sehr anschaulich erzählt, und während sich dem Leser die Person Georg Herwegh immer weiter entfremdet, gewinnt das Leben seiner Frau Emma immer deutlichere Konturen. Wir
lesen vom Kennenlernen der beiden Liebenden im vorrevolutionären Berlin, Georg bereits in ganz Deutschland wegen seiner Gedichte bejubelt und verfolgt, Emma die höhere Tochter aus sehr reichem Hause,
aber mit unbändiger Freiheitssehnsucht. Wir erleben mit ihnen die Februarrevolution 1848 im in Paris. Wir nehmen mit den beiden am revolutionären Feldzug in Südbaden teil, der im Fiasko endet.
Wir erfahren ungläubig staunend, welch aberwitzige Drei- und Vierecksverhältnisse bereits in der damaligen Zeit ausgelebt werden konnten – und wir genießen die altersweisen Lebensschilderungen
der 77jährigen Emma, die sie dem damals jungen Frank Wedekind im Pariser Exil gibt.
Dem Autor Dirk Kurbjuweit ist ein historischer Roman gelungen, der tief in das damalige Geschehen eintauchen lässt. Wer sich für Hoffnung und Scheitern von Freiheitsbewegungen interessiert,
soll dieses Buch unbedingt lesen!
Empfohlen von Wolfgang Kiekenap
Kurt Oesterle
Martha und ihre Söhne
Roman, Klöpfer & Meyer Verlag, 180 S., 20 €
"Der Feind bringt euch die Freiheit!", stand auf dem Plakat, dass die Soldaten für alle gut sichtbar aufhängten, nachdem sie Marthas Dorf in Süddeutschland eingenommen hatten. Dass Deutschland den Krieg verlieren könnte, war für Martha nicht vorstellbar gewesen. Fassungslos ist sie - wie die meisten Bewohner ihres Ortes - durch die Niederlage gedemütigt und fühlt sich von den Siegern verspottet. Obwohl immer mehr Verbrechen des NS-Regimes ans Licht kommen, "...darunter etliche Taten, die bis vor Kurzem als Ruhmestaten gegolten hatten", sieht Martha bei sich weder Verantwortung für Krieg, Massenmord und Ausplünderung noch (Mit-)Schuld an dem begangenen Unrecht. Schließlich hatte sie persönlich niemanden gemordet oder gequält oder ans Messer geliefert. Sie war lediglich von der Richtigkeit ihres Denkens, Fühlens und Handelns überzeugt gewesen - und ist es noch immer. Aber Martha hat auch Angst vor der Rache der Sieger. Hatte ihr Vater nicht prophezeit: "Schafft es der Feind bis ins Dorf, bringt er alle um". Zur eigenen Sicherheit vernichtet sie alles, was sie als überzeugte NS-Anhängerin entlarven könnte, und sie verlässt in den ersten Wochen nach Kriegsende das elterliche Haus so selten wie möglich. Jedoch nehmen die Sieger keine Rache, ganz im Gegenteil: sie schenken Kindern Kaugummis und versuchen junge Menschen wie Martha in politischen Umerziehungskursen, sogenannten "Demokratiestunden" von der Falschheit des nationalsozialistischen Denkens zu überzeugen. Sie werben für Demokratie. Martha traut all dem nicht, hat sie sich doch nie unfrei gefühlt. Ebenso wenig sieht sie sich als Angehörige einer verführten Jugend, denn sie war immer "...voll und ganz einverstanden gewesen mit dem Regime und seinen Großtaten". Martha ist orientierungslos. "Die Zeit schien auf der Stelle zu treten, es gab weder Vergangenheit noch Zukunft. Es gab nur die immer gleiche Gegenwart der Besatzung und die Straferwartung." In Nächten voller Angst schmiedet Martha einen Plan, um dem Strafgericht zu entgehen: Sie will so schnell es geht ein Kind bekommen. So heiratet sie überstürzt Paule, einen Flüchtling aus "den verlorenen Ostgebieten des Reiches", den sie fast nicht kennt. Mit 22 Jahren ist Martha Mutter von zwei Söhnen und fühlt sich als solche einigermaßen sicher "vor der Rache der Sieger".
Kurt Oesterles Roman beginnt mit der sogenannten "Stunde Null. Er spannt den Erzählbogen von der Besatzungszeit bis zum staatlichen Wiederaufbau mit der 2. freien Wahl in der BRD. Unaufgeregt, distanziert aber empathisch zeichnet er den schwierigen Übergang zur Gründung der Demokratie nach. Er schildert in klaren Worten menschliche Verheerungen, die 12 Jahre Diktatur hinterlassen haben. In den Details der Familiengeschichte von Martha, Paule und ihren beiden Söhne Alfred und Helmut leuchtet Oesterle gesellschaftliche Seelenzustände in dieser für Deutschland entscheidenden Politik- und Zeitenwende aus. Nachvollziehbar und überzeugend weist er auf Traumata hin und macht deutlich, wie schwierig ihre Verarbeitung und Überwindung sein kann.
Empfohlen von Ralph Wagner
Wlodzimierz Nowak
Das Herz der Nation an der Bushaltestelle
Polnische Reportagen
Aus dem Polnischen von Joanna Manc
KLAK Verlag Berlin, 371 Seiten
€ 16,90
Die achtzehn in diesem Buch versammelten Reportagen sind zwischen 1996 und 2013 abseits der prosperierenden Zentren, in der polnischen Provinz entstanden, drei von ihnen haben Co-AutorInnen. Die Reportagen erzählen von den Schicksalen verschiedenster Menschen in unterschiedlichsten Lebenslagen. Was sie verbindet, ist, dass sie eindrücklich illustrieren, wie dramatisch sich das Leben in Polen nach der Wende von 1989 verändert hat, wie rasant sich die ökonomische Situation vieler Menschen verschlechtert hat. In einigen Reportagen kommen die Porträtierten in O-Ton zu Wort, in den anderen beschreiben Nowak und die anderen VerfasserInnen die Lebensumstände und den Alltag der Menschen. Das geschieht mit professioneller Distanz, ohne Wertung oder Anklage, aber immer mit deutlich spürbarer Empathie. In den Reportagen geht es immer auch um Grundsätzliches, wenn nicht Existenzielles. In schonungsloser Offenheit - auch sich selbst gegenüber - sprechen die Menschen von ihren Problemen, Sorgen und Wünschen und manchmal auch von Hoffnung. Manche sind verzweifelt oder resigniert, haben sich dem Alkohol ergeben oder versuchen als Kleinkriminelle über die Runden zu kommen. Andere wenden viel Energie für Kämpfe mit Behörden oder Unternehmen an, entwickeln Ideen und ergreifen Initiativen, wo staatliche Stellen versagen oder schlicht nicht mehr existieren.
Ich empfehle die Lektüre allen, die sich für Polen interessieren und gerne ausgezeichnete Reportagen lesen. Meine Empfehlung möchte ich mit einem Zitat aus dem Vorwort zu diesem Buch von Gesine Schwan unterstreichen: "Wer das Leben in Polen in manchen Regionen auf dem Lande und in weniger erfolgreichen sozialen Schichten unsentimental kennen lernen möchte, Menschen in ihrem Alltag mit ihren Sorgen, ihrem Realitätssinn, zugleich aber auch mit ihren anrührenden Träumen und ihrer bewundernswerten Energie, immer wieder neue Anläufe zu nehmen und trotz allem für ihr Leben ein wenig Sinn zu erhaschen - der sollte zu diesem Buch greifen."
empfohlen von Ralph Wagner
Vaddey Ratner
Im Schatten des Banyanbaums
Aus dem Englischen von Stephanie von Harrach
Roman, Unionsverlag 2014, 381 Seiten, 21,95 Euro
Am 17.4.1975 eroberten die "Roten Khmer" die kambodschanische Hauptstad Phnom Penh. Damit beendeten sie einen langjährigen Bürgerkrieg und proklamierten das "Demokratische Kampuchea". Unverzüglich begannen sie unter ihrem Führer Pol Pot damit, das Land nach ihren Vorstellungen umzugestalten - mit ungeahnten Konsequenzen und unvorstellbarer Gewalt. Um ihr Ziel zu verwirklichen, einen kommunistischen Agrarstaat ohne Geld und persönliches Eigentum, wurde die gesamte Bevölkerung Phnom Penhs innerhalb weniger Tage aus der Stadt vertrieben. Familien wurden systematisch auseinandergerissen, Beamtenschaft und Polizei, Akademiker, Intellektuelle und der buddhistische Klerus gnadenlos verfolgt, gefoltert und ermordet. Alle Menschen, die aus Sicht der Roten Khmer die alte Ordnung repräsentierten und nicht bereit waren, sich für die Verwirklichung der revolutionären Ziele den neuen Machthabern zur Verfügung zu stellen, wurden getötet. Städte wurden entvölkert, Verwaltungsgebäude, Schulen, Krankenhäuser und Tempel zerstört. Die Gewaltherrschaft der Roten Khmer dauerte bloß 4 Jahre und kostete nach Schätzungen nahezu 2 Millionen Menschen ihr Leben. Sie wurden Opfer der "Killing Fields", starben an unmenschlichen Bedingungen in den Arbeitslagern, verhungerten, wurden willkürlich exekutiert oder starben, weil es keinerlei medizinische Versorgung mehr gab.
Opferzahlen allein sind abstrakt. Das Grauen der begangenen Verbrechen, das erlittene Leid jedes Einzelnen, die Tragödie eines ganzen Volkes, das um ein Drittel seiner Menschen beraubt wurde, dies alles zu erfassen, gelingt nur in empathischen Schilderungen von Einzelschicksalen und individuellen Erinnerungen. Vaddey Ratners Roman "Im Schatten des Banyanbaums" ist ein Beispiel. Es ist ein gleichzeitig todtrauriges und poetisches Buch. Die Geschichte, die in wesentlichen Zügen ihre eigene ist, so erklärt die Autorin in einem kurzen, deshalb aber nicht weniger aufschlussreichen Nachwort, wird uns durch das Mädchen Raami erzählt. Die kindliche Erzählperspektive sorgt für eine besondere Eindringlichkeit des Textes. Der unverstellte Blick auf furchtbare Geschehnisse und ihre nüchternen Schilderungen stehen in seltsamem Kontrast mit wunderschönen Naturbeschreibungen. Ein Kind versucht zu verstehen, was auch Erwachsene nicht begreifen können. Mit Phantasie und den Erinnerungen an ihren geliebten Vater, aus denen Raami Kraft schöpft, schafft sie es, Leid und die Strapazen zu ertragen und alles zu überleben.
"Im Schatten des Banyanbaums" ist eine grausame Geschichte, die in wunderschönen Worten erzählt wird, eine Geschichte über menschliche Stärke und Leidensfähigkeit, über Mitgefühl und Überlebenswillen. Vaddey Ratner, deren vollständiger Name Neak Ang Mechas Ksatrey Sisowath Ratner Ayuravann Vaddey lautet, ist Spross der königlichen Familie Sinowath I. Fast ihre gesamte Familie wurde durch die Roten Khmer ausgelöscht. Die Autorin hat mit dem Schreiben dieses herausragenden Buches Großes geleistet, denn sie hat höchstwahrscheinlich nicht nur sich selbst von einigen Dämonen der Vergangenheit befreit, sondern auch für alle Opfer der unglaublichen Verbrechen der Roten Khmer ein literarisches Mahnmal geschaffen.
Empfohlen von Ralph Wagner