Michael Kleeberg
Das amerikanische Hospital
978-3-421-04390-0
2010/DVA/Roman
232 Seiten/€ 19,99
Verglichen mit seinen früheren Romanen – Proteus der Pilger, Ein Garten im Norden, Der König von Korsika, Karlmann – kommt Michael Kleebergs neuestes Werk mit seinen knapp über 200 Seiten dünn daher.
Auch die Anzahl der Akteure, die die Handlung des Buches vorantreiben, ist sehr überschaubar: Es sind Hélène, eine 30jährige Pariserin, und David, ein US-amerikanischer Berufssoldat. Auch passiert
eigentlich nicht so richtig viel, und dennoch beeinträchtigt all diese Knappheit die Qualität des Buches in keiner Weise.
1991 begegnen sich Hélène und David im Amerikanischen Hospital in Paris. David bricht vor ihren Augen zusammen und Hélène kümmert sich um ihn, bis das Pflegepersonal zur Stelle ist. Beide ahnen zu
diesem Zeitpunkt noch nicht, dass dieser ersten, zufälligen Begegnung, noch viele weitere folgen sollen, denn beide werden über Jahre hinweg, immer wieder zur Behandlung in das Krankenhaus
kommen.
David ist durch seine Erlebnisse als Teilnehmer am 1.Golfkrieg stark traumatisiert. Er leidet unter Angstzuständen und ist nicht mehr in der Lage, seinen Dienst zu erfüllen. Ihm soll
psychotherapeutisch und psychologisch geholfen werden. Hélène kann auf natürliche Weise keine Kinder bekommen. Sie hat sich dazu entschlossen, Verfahren der Reproduktionsmedizin in Anspruch zu
nehmen, um zu der erwünschten Schwangerschaft zu gelangen. Beide erleben bei ihren so unterschiedlichen medizinischen Behandlungen Erfolg versprechende Fortschritte, beide erleiden aber auch herbe
Rückschläge. Im Krankenhaus treffen sie immer wieder aufeinander, und über die Jahre kommen sie sich näher. Was sie beide verbindet, ist nicht nur, dass sie an ihren Behandlung leiden und sich
dennoch daran klammern. Sie teilen auch das Interesse an Literatur und insbesondere an der Lyrik. Sie können darüber miteinander reden, fassen Vertrauen zu einander und werden auf eine distanzierte
Weise Freunde.
Mit dem traumatisierten Berufssoldaten und der durch die Methoden der Reproduktionsmedizin zermürbten Frau, hat Michael Kleeberg zwei Akteure aufeinander treffen lassen, die um die Handlungshoheit
über ihr Leben ringen. Die strukturelle Ähnlichkeit ihrer psychischen Beschädigungen ist überraschend: Der Soldat, der sich unter das Kommando seiner Vorgesetzten begibt, soll über seine Handlungen
nicht mehr im Einzelnen nachdenken, sondern vor allem funktionieren und Befehle ausführen. Für deren Auswirkungen trägt er zwar nur eine Teilverantwortung. Die Belastungen des Erlebten und Getanen
schlagen auf die Psyche trotzdem mit voller Wucht durch.
Die Frau, die mit den Mitteln der modernen Reproduktionsmedizin ihren Kinderwunsch zu erfüllen hofft, liefert sich dem System an Behandlungs-methoden und seinem zeitlichen Diktat aus. Auf ihre
Körperfunktionen reduziert, kann sie immer weniger über ihr Leben bestimmen. Sie unterwirft sich all dem, um schwanger zu werden und den Fötus nicht zu verlieren, verliert dabei aber zusehends das
Gefühl für sich selbst.
Michael Kleeberg beschreibt detailgenau und mit der ihm eigenen sprachlichen Virtuosität, was die Reproduktionsmedizin zu leisten versucht und welchen Preis der Entfremdung sie hat. Auch die
Erzählung der Kriegserfahrungen, die Davids Trauma verursacht haben, kommt ohne die Schilderung drastischer Gewalt daher, und sie wirkt deshalb umso eindrücklicher. Die Treffsicherheit im Ausloten
und Ausleuchten der psychischen Verfassung seiner Figuren zeichnet den Stil des Buches aus und schafft eine ungewöhnliche Nähe zu diesen. Mit „Das Amerikanische Hospital“ ist Kleeberg ein zutiefst
einfühlsames, mitfühlendes und erhellendes Buch über die seelischen Beschädigungen zweier sehr unterschiedlicher Menschen gelungen. Obendrein erlaubt es seinen Protagonisten am Ende, wenn schon nicht
„geheilt“, so doch zuversichtlich und gewissermaßen geläutert mit ihren seelischen Verletzungen umzugehen und an eine selbstbestimmte Zukunft zu glauben.
Emfohlen von Ralph Wagner